Jahreszeiten
Die zwei “Wanderjahreszeiten” – also Sommer und Winter – stellen nicht nur ganz unterschiedliche Ansprüche an Ausrüstung und Kondition. Die nordische Natur verändert auch ihren Charakter so grundlegend, dass man ein aus dem Sommer bekanntes Gebiet unter der weißen Schneedecke kaum wiedererkennt.
Die meisten Wanderer starten ihre ersten Touren im Sommer. Das macht Sinn, denn die sommerliche Witterung birgt keine lebensgefährlichen Situationen (vom Waten durch reißende Flüsse abseits der markierten Wege einmal abgesehen). Der Winter dagegen zeigt sich mit zwei Gesichtern: Bei Sonnenschein, Windstille und Pulverschnee wähnt sich der Skiwanderer im siebten Himmel.
Innerhalb weniger Stunden kann das Wetter allerdings völlig umschlagen: Sturmböen machen es schwer, sich überhaupt nur auf den Beinen zu halten, warmer Schnee pappt in zentimeterdicken Lagen an den Skiern, und das Schneetreiben kann so dicht sein, dass die wenige Meter entfernte Steckenmarkierung hinter einer weißen Wand verschwindet. Besonders heimtückisch ist dann die diffuse Helligkeit, die Himmel und Schnee zu einem kontrastlosen “White Out” verschmilzt und es unmöglich macht, Bodenwellen oder Hindernisse zu erkennen.
Dennoch: Wer nur einmal im nordischen Winter unterwegs war, hat sich meist schon mit dem Skitour-Fieber infiziert. Die unfassbar klare Luft, die weiße Weite und die holzofengewärmte Behaglichkeit der Berghütten bieten Reize, die wohl nur derjenige nachvollziehen kann, der sie schon erlebt hat.
Vorteile des Winters
Im Vergleich zum Sommer bringt der Winter einige entscheidende Vor- und Nachteile mit sich. Die Vorteile: Das Skiwandern gewährt ein gemütlicheres Laufen, denn durch die gleitenden Bewegungen entsteht ein flüssigerer Laufstil. Die im Sommer holprigen und mit Stolpersteinen gespickten Wege bereiten im Winter dank der glatten Schneedecke meist keine Probleme. Kein Wunder also, dass man da längere Tagesetappen zurücklegen kann. Denn mit den Skiern werden die meist sanften Abfahrten zum reinen Vergnügen, fast alle Seen und Flüsse sind vollständig überfroren, so dass man im Winter fast immer den direkten Weg über das Eis nehmen kann.
Reservetage für Stürme
Als Nachteile muss der Winterwanderer schwereres Gepäck in Kauf nehmen und auf gnadenlose Stürme gefasst sein. Der beste Schutz dagegen: viel Geduld, Zeit und ausreichend Reserveproviant. Während ich zum Beispiel diese Zeilen schreibe, sitze ich in der südnorwegischen Björdalsbu fest. Dichtes Schneetreiben und äußerst starker Gegenwind hindern mich schon den vierten Tag am Weiterlaufen. Wieder einmal habe ich erfahren, dass man bei einer zweiwöchigen Wintertour für etwa vier weitere Tage Reserveproviant einpacken sollte.
Die Winterwander-Saison beginnt eigentlich schon im Januar und reicht in nordskandinavischen Bergen bis etwa Mitte Mai. Kurz nach dem Jahreswechsel erlebt man vielleicht sogar die idyllischsten Wintermomente: Die erstmalig wieder über den Horizont tretende Sonne zeichnet pastellweiche Farben auf den Himmel, knackige Minusgrade sorgen für perfekte Schneeverhältnisse, und über die ganze Nordhalbkugel flackernde Nordlichter bieten des Nachts faszinierende Schauspiele.
Noch bis Mitte März wandert man weitgehend allein in den Bergen. Danach begegnet man allerdings zunehmend Touristen wie Einheimischen. Den Höhepunkt erreicht dieser Boom zu Ostern, wo halb Skandinavien in die Berge strömt. 1984 übernachteten beispielsweise in der damals mit 16 Betten ausgestatteten Sulebu 96 Personen! Der Hüttenwart schlief, um diesem Gedränge zu entgehen, in einer Schneehöhle.
16 Betten für 96 Personen
Nach Ostern wird es schlagartig ruhig, und Anfang Mai ziehen die Hüttenwarte wieder ab. Wer die Täler meidet, kann sogar bis Ende Mai problemlos und völlig einsam Skitouren im Norden unternehmen.
Danach wird der Schnee “rotten”, wie die Norweger sagen: Er fällt bleischwer in sich zusammen. Es beginnt damit, dass die Schneedecke beim Betreten quadratmetergroß wegbricht und bis zum Grund nach unten sackt, die Skier unter sich begrabend. Die Kraftanstrengung, um die “Bretter” aus dem nassen Schnee nach oben zu heben und dann bei jedem weiteren Schritt abermals nach unten zu brechen, macht das Wandern nahezu unmöglich. Wenn der Schnee dann schließlich nur noch bis zum Erdboden durchsackt und man mit den Skiern eine metertiefe Schneise in den wässrigen Schnee “fräst”, kann man ebenso gut gleich aufgeben.
Ende der Wintersaison
Doch schon einen guten Monat später – Anfang Juli – ist die Zeit für die Wanderstiefel gekommen. “Gestern war Frühling”, sagen viele Skandinavier. In der Tat: Der eigentliche Frühling dauert im Norden oft nur wenige Tage und geht abrupt in den Sommer über.
Eine Faustregel in vielen Wanderführern besagt, keine Sommertouren vor dem 20. Juli zu starten. Ich halte das für sehr übertrieben: Schon ab dem 1. Juli kann man schön gemütlich durch die sommerlichen Berge streifen und muss sich kaum mehr mit reißenden Flüssen herumplagen. Wer allerdings wasserdichtes Schuhwerk besitzt und gelegentliche Schneefelder nicht scheut, kann die Sommer-Saison auch gut und gern schon einige Wochen eher eröffnen.
Ende Juli/Anfang August tummeln sich dann die meisten Wanderer in den Hütten: 80 Gäste pro Nacht sind auf dem Kungsleden keine Seltenheit. Ab Mitte September wird es wieder völlig einsam. Eigentlich seltsam, denn diese Zeit bietet perfekte Voraussetzungen: Die Flüsse führen wenig Wasser, der sumpfige Boden ist nach kalten Nächten trittfest überfroren, und die Pflanzen leuchten in schier unbeschreiblichen Herbstfarben. Angst vor dem ersten Schneefall ist unbegründet. Bis Mitte Oktober bleibt der Schnee normalerweise nicht lange liegen und behindert das Wandern höchstens einige Tage.